Skript

SPRECHER Vorab zwei Hinweise: In diesem Feature werden körperliche Misshandlungen sowie psychische und sexualisierte Gewalt durch medizinisches Personal thematisiert. Außerdem werden die Begriffe „Frauen“ und „Mädchen“ verwendet. Damit sind Personen gemeint, die aufgrund eines binären Geschlechterverständnisses gesellschaftlich als weiblich eingeordnet wurden.

Prolog

[ein Rollkoffer wird von links nach rechts vorbeigezogen]

Das war ein Rollkoffer. Und das hier ist ein Bahnhof in einem kleinen Ort bei Hamburg. Es ist ein Samstagvormittag Ende November 2022. Kalt und ungemütlich. November eben.

Ich bin hier mit Bettina Weben verabredet, einer Interviewpartnerin. Wir haben bisher zweimal telefoniert und ein paar WhatsApp-Nachrichten gewechselt. Nach ein paar Minuten fährt ein Auto vor. Ich habe schon einen alten Fernsehbeitrag mit Bettina gesehen. Deswegen erkenne ich sie gleich beim Aussteigen. Sie erkennt mich – wahrscheinlich – am Mikrofon.

BETTINA WEBEN Irene?

IRENE Ja!

BETTINA WEBEN Bist du schon lange da?

IRENE Nee, seit fünf Minuten.

BETTINA WEBEN Mit’m Zug?

IRENE Ja.

BETTINA WEBEN Den hab ich gar nicht gesehen. Grüß dich!

IRENE Hallo, schön, dich kennenzulernen!

BETTINA WEBEN Schön! Gehts dir gut?

IRENE Ja.

BETTINA WEBEN Na los, komm.

Bettina und ich sind seit dem ersten Telefonat per Du. Und wir teilen eine Gemeinsamkeit: Wir sind beide in Halle an der Saale aufgewachsen. Sie in der DDR. Ich in der BRD.

BETTINA WEBEN Ich habe vorhin erst da drüben gestanden.

IRENE Ach so!

BETTINA WEBEN Dann kam der Bus, da musste ich weg.

Als ich Bettina treffe, stecke ich schon seit Monaten in der Recherche. Es geht um einen ganz bestimmten Ort in Halle. Ein Gebäude, mitten in der Innenstadt. Und mit dessen Geschichte ich mich erst jetzt so wirklich auseinandersetze. Damals war dieses Gebäude eine medizinische Einrichtung. Offiziell. Aber es war auch eine Umerziehungsanstalt.

SPRECHER Kleine Klaus 16. Halle, die „Tripperburg“ und ich. Ein Feature von Irene Schulz.

Eins. Aufgegriffen.

[Baustellenlärm. Schritte.]

IRENE Hier drinne?

Halle, Oktober 2022.

IRENE Hallo!

BAUARBEITER Hi!

ARCHITEKTIN Hallo.

BAUARBEITER Hi!

[unverständliches Gemurmel Architektin und Bauarbeiter]

Ich bin in der Kleinen Klausstraße 16. Unüberhörbar: Hier wird gerade gebaut. Wohnungen.

Das Gebäude stand lange leer. Eigentlich habe ich es nur als leerstehend in Erinnerung. Bis Ende der 90er stand hier ein Ärztehaus. In der DDR lief das Ganze noch unter dem Namen Poliklinik Mitte. Die Kleine Klausstraße 16 ist eine Seitenstraße am Markt. Mitten in der Innenstadt und trotzdem ziemlich verwinkelt. Ich bin nicht so oft direkt daran vorbeigelaufen. Allerdings verknüpfe ich Erinnerungen mit den umliegenden Orten. Auf einem Parkplatz, in der Großen Klausstraße, da habe ich mit meinem damaligen Freund rumgeknutscht. Da war ich 17.

BETTINA WEBEN 17. 17 Jahre war ich.

Zurück in Norddeutschland. Bettina Weben hat mich vom Bahnhof abgeholt. Jetzt sind wir bei ihr zu Hause, in einem Einfamilienhaus mit angrenzendem Garten und Kaninchenstall…

[Ein aufgeweckter Hund – äh – ‚begrüßt‘ mich und bellt laut]

…und zwei Olde English Bulldoggen.

[Bettina Weben redet beruhigend auf die Hunde ein]

IRENE Ich würd mir voll gerne ein Bild von dir machen, wie du eigentlich so warst. Kannst du mir erzählen, wie die 17-jährige Bettina so drauf war?

BETTINA WEBEN Ja. Also erst mal so von zu Hause aus, da war die ganz ne Flotte so. Immer lustig. Und dann ist ja nachher die Mutter gestorben und dann ist sie ins Heim gekommen. Und da wurde das ein bisschen runtergedrückt durch die Umstände, wie die einen da behandelt haben.

Bettina wächst in den 60er Jahren der DDR im Heim auf. 1969, mit 17, da lernt sie – gemeinsam mit einer Freundin – zwei junge Männer kennen.

BETTINA WEBEN Und da haben wir uns ein paarmal getroffen mit denen und dann haben die uns zum Essen eingeladen bei sich. Die haben im Hochhaus, wo ich im Heim war, da im Hochhaus gewohnt. Das waren Gastarbeiter, die in der DDR gearbeitet haben. Jedenfalls haben die uns zum Essen eingeladen und sind wir mit zu denen. War alles schön. Essen war lecker. Und dann haben wir was getrunken und dann haben wir da übernachtet.

Auswärts vom Heim übernachten. Noch dazu ohne Ankündigung. Das ist natürlich verboten. Bettina und ihre Freundin wissen das. Aber sie denken sich: Jetzt gibt’s eh Ärger – also können wir auch noch das restliche Wochenende bleiben. Die beiden nehmen sich vor, Montag zurückzukommen, wenn sowieso Lehre ist.

BETTINA WEBEN Aber es ging gar nicht so weit. Sonntagfrüh klingelt es bei denen. Und da standen zwei in Zivil vor der Tür. „So, Bettina“ – Wagner hieß ich da noch – „Bettina Wagner und

– hier sagt Bettina den Namen ihrer Freundin –

BETTINA WEBEN „Ja?“ – „Mitkommen.“ War ein Ton, ne?

Vor der Tür stehen zwei Volkspolizisten. Sie nehmen Bettina Weben und ihre Freundin mit nach unten ins Auto und fahren los.

BETTINA WEBEN Und dann haben wir gedacht, die fahren uns ins Heim, ne? Nein. Und da haben die uns in die Poliklinik Mitte gefahren.

In der Poliklinik Mitte gibt es damals mehrere ambulante Einrichtungen. Aber es gibt auch eine Station. Die sogenannte geschlossene venerologische Station. Venerologisch heißt: Behandlung von Geschlechtskrankheiten. Es gibt mehrere solche Stationen in der DDR, in die Frauen und Mädchen zwangseingewiesen werden. Im selben Jahr, in dem die Station in Halle eröffnet wird, tritt ein DDR-Gesetz in Kraft:

MAXIMILIAN SCHOCHOW 1961 tritt die sogenannte Verordnung zur Verhütung und Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten in Kraft, und zwar am 23. Februar 1961.

Das ist Professor Doktor Maximilian Schochow. Ehemaliger Mitarbeiter am Halleschen Institut für Geschichte und Ethik der Medizin. Gemeinsam mit Florian Steger hat er ein Buch geschrieben zur venerologischen Station in Halle. Er forscht bis heute zu dem Thema.

MAXIMILIAN SCHOCHOW Und auf Grundlage dieser Verordnung finden Zwangseinweisungen statt. Man muss da konkret sein: Die Verordnung sagt einerseits, dass unter diese Vorschriften Personen fallen, die eine Geschlechtskrankheit haben, also die eine Syphilis haben, die eine Gonorrhoe haben und dann gibt’s noch zwei, drei andere Geschlechtskrankheiten, die da aufgeführt werden. Nur für diese Personen gilt diese Verordnung überhaupt.

Mit der Zeit öffnet sich diese Definition immer weiter. Um eingeliefert zu werden, reicht schon der Verdacht, eine Geschlechtskrankheit zu haben. Jedenfalls, wenn man als weiblich eingeordnet wird. Es gibt in der DDR zwar einige wenige geschlossene venerologische Stationen, in die Männer eingeliefert werden. Allerdings viel weniger.

MAXIMILIAN SCHOCHOW Und bei Männern wird’s viel häufiger gemacht: Die kriegen halt Medikamente in die Hand gedrückt und können nach Hause gehen.

Bei der venerologischen Station in Halle steht vor allem ein Aspekt im Vordergrund: Disziplinierung. Das medizinische Ziel – die Diagnose und Behandlung von tatsächlichen Geschlechtskrankheiten – das steht eher im Hintergrund.

MAXIMILIAN SCHOCHOW Also der Vorwurf war letztlich Asozialität und die sollten dort erzogen werden.

Zwei. Behandlung.

Gleich nach ihrer Ankunft auf der Station wird Bettina Weben untersucht. Vorgeführt – so fühlt sie sich dabei.

BETTINA WEBEN Das war ja schon alleine, dass man da, wo man reingekommen ist in dem Zimmer da, dass man sich erst mal nackig machen musste. Richtig nackig! Dann haben sie geguckt unter die Arme und dann haben sie uns rasiert – alles nur Mist. Und was wehtut.

IRENE Wurde dabei auch irgendwie mit dir geredet?

BETTINA WEBEN Nein, von den Schwestern da überhaupt nicht.

Wer Bettina aufklärt – was eigentlich los ist, wo sie jetzt ist – das sind ihre Mitpatientinnen. Sie erzählen ihr auch, warum Frauen und Mädchen hier, auf der sogenannten „Tripperburg“, eingeliefert werden.

BIRGIT NEUMANN-BECKER Die sollen funktionieren. Also sie funktionieren nicht. Und sie sollen aber funktionieren.

Das ist Birgit Neumann-Becker, die Beauftragte des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

BIRGIT NEUMANN-BECKER Sprich, erstens: Arbeiten gehen und zwar regelmäßig. Zweitens: Kinder kriegen und Familie gründen, weil die DDR permanent Menschen verloren hat durch Ausreise und Flucht, das heißt, man brauchte Staatsbürgerinnen, die bitteschön hier Kinder kriegen. Das ist auch ein staatliches Ziel gewesen.

Das ist die Kurzversion. Wen die DDR als „nicht funktionsfähig“ einstuft: Das kann sehr vielfältig sein. Es gibt ganz unterschiedliche Gründe, warum Frauen und Mädchen zwangseingewiesen werden.

MAXIMILIAN SCHOCHOW Ein wesentlicher Grund ist, dass ihnen vorgeworfen wurde, dass sie Ausreißer sind.

Das können Mädchen sein, die von zu Hause abgehauen sind. Die unerlaubt bei ihrem Freund übernachten. Die am Bahnhof herumlungern. Mädchen und Frauen, denen vorgeworfen wird, sich zu prostituieren. Das ist in der DDR ab 1968 verboten.

MAXIMILIAN SCHOCHOW Es gibt eine dritte Variante, eine für meine Begriffe letztlich unfassbare Variante, aber es gibt eben auch Eltern, die sich tatsächlich an diese geschlossene venerologische Station wenden und sagen: Wir kommen mit unserer Tochter nicht mehr klar. Hier, nehmt sie, und was auch immer. Was sozusagen die Eltern dann im Kopf hatten. Aber zumindest nehmt sie und sperrt sie hier ein.

Die jüngste dokumentierte Patientin der venerologischen Station in Halle. Sie ist zwölf.

Bettina Weben muss ihre persönlichen Sachen abgeben. Wie alle anderen Patientinnen trägt sie nun einen grauen Kittel. Die Patientinnen schlafen in Fünfbettzimmern. Die Fenster sind vergittert und gehen zur Großen Nikolaistraße hinaus. In dieser Straße steht bis heute ein stadtbekannter Club.

BETTINA WEBEN Die Palette. Und dann hast du da gehört, die Musik, wie die da gespielt haben. Das war auch ein bisschen für die Psyche.

Bettina bleibt hier für vier Wochen. Der Tagesablauf ist immer wieder der gleiche.

BETTINA WEBEN Kann ich schnell beschreiben: Um sechs aufstehen. Waschen, schnell. Untenrum. Weil man dann sich anstellen musste zum Abstrich. Jeden Früh.

Mit dem Abstrich meint Bettina einen gynäkologischen Abstrich. Jede Patientin muss den machen lassen. Jeden Tag. Nach 20 bis 30 negativen Abstrichen kann eine Patientin entlassen werden. Aus medizinischer Sicht ergibt das keinen Sinn.

MAXIMILIAN SCHOCHOW Weil entweder man hat sozusagen eine Geschlechtskrankheit, dann kann man das einmal feststellen und dann kann man eine Therapie beginnen und wenn die Therapie abgeschlossen war, kann man einen Probeabstrich machen und dann gucken, wie man weiter verfährt, aber man musste nicht täglich diese Abstriche machen.

Die Abstriche sind Teil der Disziplinierung. Sie werden oft sehr brutal durchgeführt. Eine Schwester ist besonders berüchtigt. „Kurbel-Dora“ wird sie genannt.

BETTINA WEBEN Nach dem Frühstück war wieder nichts, da hat man dann rumgesessen und vielleicht ein paar Spiele gemacht oder sich leise unterhalten, weil man leise sein musste. Dann kam Mittagessen. Danach gab’s Mittagsruhe. Danach hast du dann aufs Abendbrot gewartet. Und nach dem Abendbrot hast du wieder gewartet, dass du ins Bett gehen konntest und dann, dass die Nacht vorüber war.

Zu den Abstrichen und der täglichen Langeweile kommen noch Strafen. Manchmal auch durch Mitpatientinnen durchgeführt, sogenannten Stubenältesten. Das kann tagelange Isolation sein. Hockersitzen auf dem Flur, die ganze Nacht lang. Abstrichsperre – also tagelang keine Abstriche, was natürlich die Entlassung hinauszögert.Oder:sogenannte Bomben. Das sind Spritzen, die bei den Patientinnen heftiges Fieber auslösen.

MAXIMILIAN SCHOCHOW Das war in den 30er und 40er Jahren ein ganz probates Mittel. Man hat sozusagen versucht, mit den Fieberspritzen die Fieberkurven, Fieberzacken sozusagen zu erzeugen, um die Gonokokken anzutriggern. Ist dann aber in den 60er Jahren völlig obsolet.

Neben den Pflegerinnen arbeiten noch Ärzt*innen auf der Station. Fürsorgerinnen, die die Patientinnen zu ihren Sexualpartnern befragen. Und Medizinstudierende, die ein Praktikum machen müssen. Von ihnen arbeiten heute noch welche in Halle.

ANNE KUPKE Ist mir selber mal passiert, bei einer Grillparty sagte mir dann die Gastgeberin: „Ja, ich war da auch.“ Und die sagte sofort: „Das war aber ganz anders, das kann ich dir mal gleich sagen.“

Anne Kupke vom Verein Zeit-Geschichte(n) in Halle. Sie gibt regelmäßig Stadtführungen und informiert über die Kleine Klausstraße 16. Außerdem hatte sie schon öfter solche Begegnungen, in denen ehemalige Mitarbeiter*innen sagen: Das war gar nicht so auf der Station.

ANNE KUPKE Ich frage dann immer, ob sie sich damit schon mal beschäftigt haben, ob sie zum Beispiel das Buch von Florian Steger gelesen haben oder… Da kommt immer „Nein“, das kennen sie auch gar nicht, sie beziehen sich dann meistens auf Berichterstattung, die es in den Medien gab. Und dass sie das persönlich nicht erlebt haben, das kann ja sein, oder das anders wahrgenommen haben oder meinetwegen auch, dass sie zu einer Zeit dort tätig waren, als die Zustände dort nicht mehr so waren. Aber man kann doch trotzdem den Betroffenen zuhören. Das schockiert mich doch ein bisschen, diese mangelnde Bereitschaft, sich damit auseinanderzusetzen.

Es ist Juni 2022. Und ich bin bei meiner Hautärztin. Sie ist deutlich über 60. Ich frage mich, ob sie in Halle studiert hat. Ob sie auch im Rahmen ihrer Ausbildung auf der venerologischen Station war. Falls ja: Was sie dort mitbekommen hat. Wie sie heute darüber denkt. Ich traue mich nicht, sie zu fragen. Immerhin bin ich hier als Patientin.

Drei. Sozialistische Persönlichkeiten.

1962 – es gibt die venerologische Station in Halle gerade mal ein Jahr – da gibt es eine Strafanzeige gegen Dr. Gerd Münx. Münx ist ärztlicher Direktor der Poliklinik Mitte – und leitet die geschlossene venerologische Station. Der Grund für die Anzeige sind die brutalen Erziehungsmaßnahmen. Das führt aber nicht dazu, dass die ganzen Bestrafungsmethoden abgeschafft werden. Stattdessen schreibt Münx eine Hausordnung.

MAXIMILIAN SCHOCHOW Der schreibt die sozusagen selbst, und in dieser Hausordnung steht explizit in der Präambel drin, dass diese Einrichtung dazu dient, die Frauen, die dort zwangseingewiesen werden, zu disziplinieren, zu erziehen und wohin zu erziehen? – Zu sozialistischen Persönlichkeiten.

ZITAT AUS DER HAUSORDNUNG „Durch erzieherische Einwirkung muss erreicht werden, dass diese Bürger nach ihrer Krankenhausentlassung die Gesetze unseres Staates achten, eine gute Arbeitsdisziplin zeigen und sich in ihrem Verhalten in unserer Gesellschaft von den Prinzipien des sozialistischen Zusammenlebens der Bürger unseres Staates leiten lassen.“ (BArch Best. DQ 1. Nr. 4228, S. 1)

Damit rechtfertigt Münx die brutale Behandlung der Patientinnen. Bettina Weben hat während ihrer Zeit auf der Station wenig mit Münx zu tun.

BETTINA WEBEN Gesehen, ne? Der macht ja nichts. Oder der hat nichts gemacht, der hatte ja seine Leute. Nur gesehen hat man den. Der saß manchmal im Büro.

Andere Zeitzeuginnen beschreiben Münx als einen Tyrannen. Und auch wenn Münx – so wie es Bettina ausdrückt – „nichts macht“: Er gibt die Anweisungen, wie mit den Patientinnen umzugehen ist. Für ihn gelten die Frauen und Mädchen als minderwertig.

Gerd Münx studiert noch im Nationalsozialismus Medizin, legt kurz nach dem Zweiten Weltkrieg sein Staatsexamen ab. In der DDR mausert er sich vom Angestellten beim Gesundheitsamt bis zum ärztlichen Direktor der Poliklinik Mitte. Ein Arzt in einer Machtposition, der ganz im Sinne der DDR handelt. Das wäre ein willkommenes Narrativ. Aber ganz so einfach ist es nicht.

MAXIMILIAN SCHOCHOW Die Stasi, das Ministerium für Staatssicherheit, setzt eben seine Spitzel überall ein und in dem Zusammenhang wird eben auch Gerd Münx überwacht.

Münx wird bespitzelt. Ab 1976, von einem Kollegen. Hintergrund sind wiederholt Beschwerden über Münx‘ Behandlungsmethoden. Und auch, wenn es die Hausordnung gibt mit der Angabe, die Patientinnen zu sozialistischen Persönlichkeiten erziehen zu wollen: Was auf der Station passiert und dass überhaupt Mädchen und Frauen nahezu willkürlich eingeliefert werden – das ist nach DDR-Recht illegal.

MAXIMILIAN SCHOCHOW Und man kann jetzt sagen: Ja, bestimmte Institutionen der DDR wussten relativ früh relativ gut Bescheid, dass in dieser Einrichtung, die Gerd Münx da geleitet hat, Rechtsverstöße stattgefunden haben. Es wird auch so deutlich formuliert: Gerd Münx weist da Frauen ein, ohne dass eine medizinische Indikation vorliegt, ohne dass sozusagen der rechtliche Rahmen in irgendeiner Form greifen würde, und niemand tut was dagegen. Und das lässt natürlich die Frage offen: Warum? Wenn das Ministerium für Staatssicherheit so früh von verschiedenen inoffiziellen Mitarbeitern weiß, was da stattfindet auf der geschlossenen venerologischen Station und nicht dort eingreift, stellt sich die Frage tatsächlich, warum.

Warum die DDR jahrelang nichts unternommen hat – obwohl sie – oder jedenfalls ihr Geheimdienst, die Stasi – Bescheid wusste, dass Münx gegen geltendes Recht verstößt: Das habe ich auch Birgit Neumann-Becker gefragt, die Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

BIRGIT NEUMANN-BECKER Das kann ich Ihnen nicht sagen. Das Ziel oder die Aufgabe dieser Station war ja, die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten zu verhindern. Und solange dieses Ziel so erfüllt wurde oder diese Aufgabe so erfüllt wurde, dass man jetzt keine Konflikte nach außen getragen hat und keine Probleme hatte, im Grunde gab es erst mal wenig Anlass, um da jetzt so grundlegend reinzugehen, weil man ja sich dann hätte eine Alternative überlegen müssen.

Naja. Zum Beispiel die ambulante Behandlung mit Medikamenten. Von Patientinnen, die wirklich krank sind. Aber allein in der Bilanz für das Jahr 1977 zeigt sich: Nur dreißig Prozent der eingelieferten Frauen und Mädchen hatten überhaupt eine Geschlechtskrankheit. Bei siebzig Prozent wurde gar keine medizinische Therapie durchgeführt. Münx bleibt trotzdem Leiter der Station. Auch wenn er ab Mitte der Siebziger Jahre nicht mehr Direktor der gesamten Poliklinik Mitte ist.

BIRGIT NEUMANN-BECKER Ich glaube, da ist einfach auch so ein Stückchen, aber das kann ich eigentlich wirklich nur mir überlegen, also dass da so ein Stückchen der Weg des geringsten Widerstandes gegangen worden ist. Man wollte keinen Skandal, na klar, das nicht, aber solange das irgendwie lief, lief es eben.

Ende 1978. Da läuft es nicht mehr irgendwie. Eine Patientin wird tagelang im Bad isoliert. Dann aber diagnostiziert eine Stationsärztin bei ihr eine offene Tuberkulose. Der Vorfall wird zur Anzeige gebracht. Münx wird entlassen. Damit endet das System von gewaltvollen Bestrafungen. Nach ihm übernimmt ein neuer Arzt die Station, bis sie Anfang der 80er geschlossen wird. Münx wird strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen. Weder in der DDR, noch in der BRD. Im Jahr 2000 stirbt er.

1969: Bettina Weben ist seit vier Wochen auf der venerologischen Station. Und an einem Vormittag wird sie ins Büro gerufen.

BETTINA WEBEN Und dann haben sie gesagt: „Es ist jetzt alles in Ordnung“ und sie würden mich entlassen, aber ich muss erst unterschreiben, dass ich mich nicht äußere über das, was hier vorgefallen ist. Sollte ich das nicht machen, dann bleibe ich nochmal so eine Zeit hier. Die haben nicht gesagt „vier Wochen“, vier Wochen kam nicht in den Mund, aber „nochmal so eine Zeit“. Ich hätte sonst was unterschrieben.

Diese Verschwiegenheitserklärung, die muss jede Patientin bei ihrer Entlassung unterschreiben. Ansonsten kommt sie nicht raus. Nachdem Bettina unterschrieben hat, bekommt sie ihre Kleidung wieder. Sie zieht sich an und wird vom Heimleiter abgeholt.

BETTINA WEBEN Da habe ich den Heimleiter gefragt auf dem Weg wieder ins Jugendwohnheim, warum er das gemacht hat. Und da hat er mir geantwortet: „Zur Abschreckung der anderen.“ Weil wir da die Nacht nicht im Heim waren.

IRENE Wie haben denn die anderen im Heim darauf reagiert?

BETTINA WEBEN Gar nicht. Gar nicht. Ich nehme an, die sind geimpft worden, dass die uns da nicht ansprechen. Es hat keiner was gesagt, das war, als wenn wir nie weg waren.

Vier. Schweigen.

Neulich hat mich jemand gefragt, ob ich mich als ostdeutsch identifiziere. Das finde ich schwer zu beantworten. Ich bin zwar hier in Halle, im Nachwende-Osten aufgewachsen. Gebürtig komme ich aber aus Hamburg, genauso wie meine Eltern. Meine eine Großmutter wiederum, die ist in Halle geboren. Ende der 50er hat sie in den Westen geheiratet. So weit, so hin und her. Was ich sagen will: Meine Eltern wissen nichts von einer sogenannten Tripperburg. Und abgesehen davon, dass meine Großmutter vor Eröffnung der Station ausgereist ist: Fragen kann ich sie nicht mehr.

ANNE KUPKE Also ich habe den Eindruck, dass viele Leute etwas darüber wissen.

Anne Kupke vom Verein Zeit-Geschichte(n) nochmal.

ANNE KUPKE Mit etwas meine ich, sie haben schon mal davon gehört, ist aber viel mündliche Erzählungen, weil mein Eindruck ist, in Halle kennt jeder jemanden, der zumindestens jemanden kennt, der dort entweder mal war, oder gearbeitet hat oder irgendwas zu wissen meint.

Auch wenn meine Eltern nicht aus Halle kommen: Sie haben natürlich Kontakt zu Menschen, die in der Halleschen DDR gelebt haben. Also will ich mit ihnen über die Poliklinik Mitte reden. Ob sie damals irgendwas mitbekommen haben.

Ich schreibe eine E-Mail an eine Bekannte meiner Eltern. Sie hat im Halleschen Gesundheitswesen gearbeitet. Vielleicht weiß sie was. Tatsächlich antwortet sie mir, dass eine Freundin von ihr in der Poliklinik Mitte gearbeitet hat. Wenn auch nicht auf der venerologischen Station. Ihr sei aber nichts Außergewöhnliches aufgefallen. Ich frage zweimal nach, ob ich mit ihrer Freundin mal sprechen könnte. Allerdings ohne Erfolg.

Dann telefoniere ich noch mit einer Bekannten meines Vaters, die in Halle aufgewachsen ist. Sie meint, es sei nichts durchgesickert in der Bevölkerung. Sie habe aber immer so ein Gruselgefühl gehabt, wenn sie am Haus vorbeigegangen sei. Dieses diffuse „Irgendwie wusste man, dass da irgendwas nicht stimmt“ – das kennt auch meine Freundin Liane Pförtner. Wir kennen uns noch aus der Schule.

LIANE PFÖRTNER Meine Mutter hatte mir das auf jeden Fall mal erzählt: Das war mal ein Krankenhaus und da war so eine Geschlechtskrankenstation, die „Tripperburg“ genannt wurde.

Im Gegensatz zu meinen Eltern kommen die von Liane aus Halle. Und auch wenn sie nicht direkt mit diesem Ort zu tun hatten: Irgendwie haben sie schon gewusst, dass da was nicht ganz richtig läuft.

LIANE PFÖRTNER Tatsächlich schon als so einen Ort, der irgendwie im Bewusstsein ist, wo man auf keinen Fall hinmöchte. Also das ist schon, was ich von meiner Familie mitgenommen habe: Da gab’s in der Stadtmitte diese Poliklinik, dieses Krankenhaus, und wenn man da mal hinmusste, das war ganz schlimm. Da hätte man nicht hingewollt, weil da wurde man dann gleich abgestempelt oder so: Warum ist denn diese Person dahin?

Über Liane habe ich erst so wirklich von der venerologischen Station erfahren. Sie kennt die Geschichte schon seit Jahren. Da sind zum einen die Gespräche mit ihren Eltern oder ein Stadtrundgang, bei dem das auch Thema war. Allerdings kennt sie auch Erzählungen aus ihrer Familie, die nicht so ganz mit dem Bild übereinstimmen, das wir haben.

LIANE PFÖRTNER …dass ich schon vor ein paar Jahren mit meiner Oma darüber geredet habe und die schon noch dieses Bild hatte von: Naja, dort sind ja Leute hingekommen, die… ja, die irgendwie schwierig waren oder so und dass das schon irgendwie so akzeptiert… Dass sie das als so eine Akzeptanz irgendwie wahrgenommen hat.

IRENE Weil sie’s verdient haben.

LIANE PFÖRTNER Ja…

Was nicht vergessen werden darf: Es geht hier um eine Station für Geschlechtskranke. Gut – ein Großteil der Patientinnen war gar nicht krank, aber die Behandlung von Geschlechtskrankheiten – das war nun mal das öffentliche Aushängeschild dieser Station. Und Geschlechtskranke – oder vermeintlich Geschlechtskranke – waren gesellschaftlich geächtet. Und zwar nicht nur in der DDR.

In den 80ern zum Beispiel wurden in der BRD schwule Männer als Sündenböcke für HIV benutzt. Solche Vorbehalte gibt es bis heute.

2022, als in Deutschland die Affenpocken aufgekommen sind: Das ist eine Krankheit, die eben nicht nur über Geschlechtsverkehr übertragen werden kann, sondern generell durch engen Hautkontakt. Die ersten Fälle sind in der MSM-Community aufgetreten. Also bei Männern, die Sex mit Männern haben. Und die mediale Berichterstattung dazu… Naja. Im Herbst 2022 haben Professor Schochow und ich uns darüber unterhalten. Er fasst es ganz gut zusammen:

MAXIMILIAN SCHOCHOW Wenn Sie sich die Presseberichterstattung dazu angucken: Es wird immer, und das auch sehr süffisant, darauf hingewiesen, dass es im Wesentlichen Männer betrifft, die Männer lieben und es ist eine Katastrophe, wie über die Affenpocken da berichtet wird und eine Stigmatisierung von gleichgeschlechtlichen Begehrensformen durchgeführt wird. Und das zieht sich quer durch, durch die Politik, durch die Medizin, durch die Medien, es kommt sozusagen beim Stammtisch an. Und Affenpocken, das ist klar, das bleibt sozusagen hängen, wäre sozusagen eine Erkrankung oder ein Problem von gleichgeschlechtlichen Liebesformen.

Dass einzelne Bevölkerungsgruppen als medizinischer Sündenbock herhalten – das ist immer noch ein wichtiges Thema und keine reine „Damals-in-der-DDR“-Geschichte. Aber, der Unterschied ist eben: Das wird öffentlich diskutiert. Betroffene, queere Menschen äußern sich dazu auf Social Media, in journalistischen Medien. Ihre Stimmen werden – wenn auch mit etlicher Verspätung und immer noch nicht genug – gehört.

MAXIMILIAN SCHOCHOW Es gibt schon Unterschiede eben zu dem, was da in der DDR stattgefunden hat, weil einerseits werden Menschen stigmatisiert, exkludiert, diskriminiert, das ist richtig. Das hat schwere Folgen. Überhaupt gar keine Frage. Aber in den geschlossenen Stationen, da sind sie nicht nur stigmatisiert, diszipliniert, exkludiert worden, sondern eben auch nochmal zusätzlich körperlich wie psychisch traumatisiert worden mit verheerenden Folgen.

Diese Folgen der Behandlung auf der venerologischen Station – das können Schlafstörungen sein. Sexuelle Unlust. Die Unfähigkeit, stabile Beziehungen einzugehen. Inkontinenz. Fehlgeburten oder Komplikationen bei Geburten.

BETTINA WEBEN Also Nachwirkungen sind sowieso. Das ist schon mal das Gynäkologische. Und dann Alpträume. Die habe ich heute noch.

Angst vor gynäkologischen Untersuchungen – das ist auch eine typische Folge für ehemalige Patientinnen. Ein gynäkologischer Abstrich als Krebsvorsorge, das geht für Bettina Weben nicht. Und dann sind da natürlich die ganzen Erinnerungen an das, was passiert ist.

BETTINA WEBEN Naja und wenn dann irgendwas ist. Wenn du was hörst oder so, dann denkst du sofort dran. Ist nicht vergessen. Geht auch nicht weg.

In den Jahren nach ihrer Zeit auf der geschlossenen venerologischen Station spricht Bettina nicht über das, was sie erlebt hat. Als junge Frau wird sie ein zweites Mal zwangseingeliefert. Danach vertraut sie sich einer Arbeitskollegin an.

BETTINA WEBEN Die hatte da bei mir in der Straße gewohnt. Und da bin ich dann zu ihr und mit ihr habe ich darüber geredet. Die hat dann gefragt, wo ich war, und erst wollte ich es nicht erzählen, weil ich Angst hatte. Aber ich habe gedacht: Jetzt bist du hier draußen…

Details aus der Behandlung, die erzählt Bettina ihrer Kollegin nicht. Das ist ihr peinlich. Aber dass sie eingesperrt wurde auf einer Station, gegen ihren Willen. Das erzählt sie.

BETTINA WEBEN Ich hatte den Eindruck, die hat das nicht geglaubt. Und dann erzählt man ja auch nichts weiter. Und da habe ich es nie wieder erzählt. Keinem.

Gegenüber der Kleinen Klausstraße 16 steht ein Wohnhaus mit Bäumen. Ende September 2022 treffe ich dort auf drei junge Schülerinnen. Fast jeden Tag seien sie hier, sagt mir eine von ihnen. Ich frage sie, ob sie wissen, was das ihnen gegenüber für ein Gebäude ist. Wissen sie nicht. Als ich ihnen erzähle, dass hier in der DDR Mädchen und Frauen zwangseingewiesen wurden, reagieren sie sehr überrascht. Dabei haben sie in der Schule schon über die DDR gesprochen. „Krass, dass man so was gar nicht weiß“, sagt eine von ihnen. Obwohl es um die Heimatstadt geht.

Darüber, dass sie bisher noch nichts von diesem Ort gehört haben, bin ich ehrlich gesagt nicht überrascht. Einen Tag vorher habe ich mit einem Freund telefoniert. Er hat in Halle studiert. Als ich ihm von der Poliklinik Mitte und der sogenannten Tripperburg erzähle, meint er: „Sagt mir gar nichts.“ Er ist Geschichtslehrer.

Fünf. Geschichten.

ANNE KUPKE Vor vielen Jahren… Ist jetzt wirklich schon lange her, vielleicht… 15, 20 Jahre.

Genauer gesagt: Das Jahr 2000. Da melden sich zum ersten Mal ehemalige Patientinnen beim Verein Zeit-Geschichte(n). Die damalige Projektleiterin, Heidi Bohley, nimmt die Meldungen entgegen.

ANNE KUPKE …und Heidi hat diesen Berichten Glauben geschenkt und versucht, Erkundigungen einzuholen, hat rumgefragt. Und festgestellt, dass es Leute gibt, die das bestätigen. Uns war darüber aber nichts weiter bekannt. Ziel dieser Personen, die sich hier gemeldet hatten, war natürlich in irgendeiner Form eine juristische Rehabilitierung zu erlangen. Möglicherweise auch eine Entschädigung. Aber auch zu erreichen, dass ihnen erst mal jemand zuhört.

Diese Entschädigung, die steht ehemaligen Patientinnen inzwischen zu. Sie können ihre strafrechtliche Rehabilitierung beantragen. Aber bis dahin von den ersten Zeitzeuginnenberichten aus ist es ein langer Weg. Und erst mal steht vor allem eines im Vordergrund: Aufklärung. Birgit Neumann-Becker ist einmal im Monat beim Verein Zeit-Geschichte(n) und spricht mit Betroffenen, die SED-Unrecht erfahren haben.

BIRGIT NEUMANN-BECKER Und in diesem Zusammenhang ist das dann berichtet worden und als dann das so 10, 15 Frauen waren, dann war für mich die Frage, was ich damit mache und ich habe gesagt: „Ok, dann müssen wir uns das genauer angucken.“

Sie kontaktiert das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin in Halle. Hier kommen Florian Steger und Maximilian Schochow ins Spiel. Sie suchen in Archiven nach Quellen. Und: Sie führen Interviews mit Zeitzeug*innen.

MAXIMILIAN SCHOCHOW Da hatten wir in gewisser Weise Glück, weil wir nicht nur mit Frauen gesprochen haben, die Opfer dieser Einrichtung geworden sind, sondern es haben sich bei uns auch Polizisten gemeldet, die an der Zuführung beteiligt waren; es haben sich bei uns Oberschwestern gemeldet; es haben sich bei uns auch Ärzte gemeldet, die da mal ein Volontariat gemacht haben oder eine Zeitlang dort gearbeitet haben. Und die haben uns dann ihre verschiedenen Perspektiven, aus ihren sehr unterschiedlichen Perspektiven ihre Geschichte erzählt, die sie mit dieser Einrichtung verbunden haben.

Unterschiedlich sind nicht nur die Perspektiven an sich. Sondern auch der Blick darauf, ob das, was in der Poliklinik Mitte passiert ist, eigentlich Recht oder Unrecht war. Steger und Schochow sprechen mit ehemaligen Pflegerinnen, die auch zu diesem Zeitpunkt der festen Auffassung sind: Das war schon alles richtig so.

MAXIMILIAN SCHOCHOW Und dann gab es aber auch Personen, das muss man auch deutlich sagen, die aus der heutigen Perspektive tatsächlich ein neues Verhältnis dazu aufgebaut haben, zu dem, was da in den 60er, 70er Jahren passiert ist, was sie da auch erlebt haben, was sie zum Teil auch mitgemacht haben, wo so eine Reflexion, eine innere Aufarbeitung stattgefunden hat.

Und dann sind da noch die Interviews mit den ehemaligen Patientinnen. Frauen, die oft jahrelang, jahrzehntelang nicht über das Erlebte gesprochen haben. Die teilweise in den Forschungsinterviews das erste Mal überhaupt von ihren Erlebnissen berichten. Oder: denen zum ersten Mal geglaubt wird.

MAXIMILIAN SCHOCHOW Für uns als Interviewer war das natürlich auch eine große Herausforderung, weil sich dann in bestimmten Situationen auch Dämme gebrochen haben, also Frauen, die dann ganz aufgelöst auch geweint haben.

BETTINA WEBEN Das war eine Katastrophe. Und vor allem, was ich schlimm fand: über die Abstriche früh, wo die mir so wehgetan haben. Und dann sind da zwei fremde Männer, die man nicht kennt und dann muss man da erzählen. Ich weiß nicht, wie ich das geschafft habe, kann ich gar nicht sagen.

2014 erscheint Stegers und Schochows Buch Disziplinierung durch Medizin. Danach forschen sie zu weiteren venerologischen Stationen in der DDR. Der Verein Zeit-Geschichte(n) gibt wiederholt Stadtführungen, die auch an der ehemaligen Poliklinik Mitte vorbeiführen. Es gibt Zeitungsartikel, Fernsehbeiträge. Und auch Kunst. 2022 erscheint der Roman Herumtreiberinnen. Autorin ist Bettina Wilpert. Nicht zu verwechseln mit Bettina Weben. In Bettina Wilperts Buch geht es unter anderem um ein junges Mädchen, das in eine venerologische Station eingeliefert wird.

BETTINA WILPERT Und im Roman Herumtreiberinnen gibt es ja auch noch ganz viel. Also klar ist da die venerologische Station schon so der Fokus, aber es werden ja auch noch ganz viele andere Geschichten erzählt, also von einem Vertragsarbeiter oder von so einer Punkerin, wo ich dann eben gemerkt habe: Da gibt es so viele Aspekte der DDR-Geschichte, die vielleicht nicht so bekannt sind, die mich aber sehr interessieren.

Bettina Wilpert ist im Jahr 1989 geboren. Sie hat die DDR also nicht miterlebt – und ist außerdem in Bayern aufgewachsen. Nach dem Abi geht sie nach Berlin, studiert in Potsdam.

BETTINA WILPERT Und da hatte ich dann sozusagen so ein kleines Schlüsselerlebnis: Als ich mit der S-Bahn nach Potsdam gefahren bin, saßen zwei Kommilitoninnen neben mir und dann hat die eine die andere gefragt: „Waren deine Eltern eigentlich bei der Stasi?“ – und die andere so: „Weiß ich gar nicht, muss ich mal fragen.“ Und ich glaube, da hab ich das erste Mal darüber nachgedacht – also klingt vielleicht im ersten Moment bescheuert – aber so wie: Ach ja, ist ja noch gar nicht so lange her mit der DDR.

Schließlich geht Bettina Wilpert nach Leipzig, wo sie bis heute lebt, und wo auch ihr Roman „Herumtreiberinnen“ spielt. Mit ihrem Buch geht es ihr nicht nur darum, sich allgemein mit der DDR auseinanderzusetzen, sondern auch ganz gezielt mit dem Ort, in dem sie lebt.

BETTINA WILPERT Und dass ich eben das Gefühl habe, ich habe auch als Westdeutsche vor allem wie so eine Verantwortung, mich eben mit der Geschichte auseinanderzusetzen. Und ich glaube, das war so ein bisschen der persönliche Hintergrund, dass ich einfach für mich selber gemerkt habe: Ok, ich finde es einfach komisch, hier zu leben und so wenig darüber zu wissen.

Und dann ist da noch Liane Pförtner, mit der ich zusammen zur Schule gegangen bin. Sie studiert Kunst an der Burg Giebichenstein. In einem Grundlagenkurs soll sie eine Plastik erstellen, die ins Stadtbild eingefügt werden kann. Sie entscheidet sich, zur Kleinen Klausstraße 16 zu arbeiten und baut eine Skulptur aus Maschendraht und Steinpappe.

LIANE PFÖRTNER Also es ist eine Skulptur, die eine Steinoptik hat. Die Optik von einem Vorhang, hinter dem ein Mensch steht. Also man kann erahnen, dass dahinter sich so ein Mensch verbirgt, der irgendwie vielleicht sogar ausbrechen will aus dem, was im Hintergrund geschieht sozusagen.

Als ich nach Norddeutschland fahre, um mit Bettina Weben zu sprechen, da nehme ich ein Foto von der Skulptur mit. Nach unserem Gespräch – die Hunde werden schon langsam unruhig – frage ich Bettina Weben, ob ich ihr noch etwas zeigen darf.

IRENE Weiß nicht, ob du es gut erkennst, weil es jetzt alles schwarz-weiß ist – diese Skulptur, die auf dem Foto ist.

BETTINA WEBEN Hier ist so der Kopf, ne? Und Hände, Finger, ne? Was is’n das?

IRENE Das ist ein Kunstwerk von einer Freundin von mir, die studiert an der Burg. Und das heißt Verdeckt. Und damit hat sie eben Bezug genommen auf…

BETTINA WEBEN …die Poli Mitte.

IRENE …auf die Poli Mitte. Und über sie bin ich auch eigentlich erst so…

BETTINA WEBEN Das ist gut.

IRENE …richtig zum Thema gekommen.

BETTINA WEBEN Da sieht man alles drin. Grauen. Das ist gut! Das passt zur Poli Mitte.

IRENE Warum?

BETTINA WEBEN Erst einmal: Auf dem Bild sieht man Schmerz, Elend und Grauen. Das ist richtig traurig. Und alles hinterm Vorhang. Dass die Welt das nicht erfährt.

Ich möchte wissen: Wie ist das für Bettina als Betroffene, wenn Menschen aus dem, was sie ganz real erlebt hat, jetzt Kunst machen? Im Gespräch hat sie mir noch erzählt, am liebsten wäre es ihr, das Haus würde abgerissen. Weil einfach die ganzen Erinnerungen daran so schlimm sind. Ich habe noch etwas mitgebracht. Den Roman von Bettina Wilpert, Herumtreiberinnen.

IRENE Also und die Autorin, die ist nur ein paar Jahre älter als ich, die ist Jahrgang 89. Und du hast ja jetzt eben auch erzählt: Eigentlich wär’s dir am liebsten, wenn gar nicht daran erinnert würde. Und jetzt sind hier zwei junge Frauen – oder ich ja zum Beispiel auch, ich bin Jahrgang 94, ich hab die DDR ja nie miterlebt – und machen Kunst daraus. Oder ein Medienprojekt, so wie ich.

BETTINA WEBEN Ja, im Grunde genommen widerspricht sich das dann, wenn ich sage: „Am besten, man wird nicht erinnert.“ Aber wiederum: Wenn man nicht erinnert wird, kommt das ja nicht ans Licht. Ich meine das jetzt so: Ich rede da auch drüber. Und obwohl mir das manchmal auch recht schwerfällt, aber ich rede darüber. Ich finde, das muss sein. Und was ich jetzt so gemeint habe, so direkt… Wenn ich jetzt in Halle bin, wenn ich das Haus sehe, da ist das so, dass da automatisch – da kommt das hoch, da kommen die Tränen. Und wenn das jetzt, wenn das Haus renoviert ist, und das sieht jetzt freundlich und nett aus mit Balkon und bisschen bunt vielleicht oder was weiß ich, dass einem dann nicht gleich die Tränen kommen, dass man sagt: Guck mal, da haben sie was Schönes gemacht. Vielleicht.

Sechs. Wohnungen.

Es ist jetzt Frühling 2023. Der Bau an der Kleinen Klausstraße 16 ist größtenteils abgeschlossen. Über vierzig Wohnungen sind hier entstanden – von der Einraum- bis zur Fünfzimmerwohnung. Wo über Jahre hinweg ein leerstehendes, immer mehr verfallendes Ärztehaus stand, steht jetzt ein Wohnhaus mit glatter Fassade.

LIANE PFÖRTNER Ich persönlich finde das also vom Gefühl her problematisch. Jetzt  war der Ort – oder das Gebäude war jetzt jahrelang eine Ruine und damit auch nicht wirklich sichtbar in der Stadt. Außer durch den Gedenkstein hat man ja auch nicht wirklich erfahren, was dort passiert ist. Aber die Vorstellung, dass da jetzt Wohnungen reinkommen und das dann einfach so im Stadtbild und Wohngebiet so untergeht oder halt keine Gedenkstätte wird, finde ich… Da haftet irgendwie das Gefühl an, dass das in Vergessenheit gerät.

ANNE KUPKE Naja. Ich sage es Ihnen ganz ehrlich: Ich finde das gut. Ich meine, wir können das nicht zum Museum machen. Also hätten wir das zum Museum machen sollen, dann hätte das das Land oder die Stadt kaufen müssen.

Stattdessen hat eine Leipziger Baufirma das Haus gekauft. Teile des Hauses sind nun so restauriert, wie sie vor der DDR aussahen, als das Gebäude über viele Jahre ein Gasthof war. Goethe war hier.

ANNE KUPKE Ich verstehe, dass die Leute, die dort dann später wohnen werden – und das ist eine sehr, sehr, sehr attraktive Lage, nah am Markt – dass die nicht jeden Tag, wenn sie in ihr Haus rein und rausgehen wollen, dort an einer Ausstellung vorbeilaufen wollen über die Gräuel, die an dem Ort stattgefunden haben. Das ist absolut nachvollziehbar.

Liane, die hat ursprünglich darüber nachgedacht, ihre Skulptur vor der Kleinen Klausstraße 16 aufstellen zu lassen. Problem: Sie ist nicht wetterfest. Und im Haus selbst wollte der Bauherr die Skulptur nicht haben. Das würde auch tatsächlich wenig Sinn ergeben – schließlich sollen ja Menschen auf die Geschichte aufmerksam gemacht werden, die sich sonst nicht mit dem Thema auseinandergesetzt hätten. Eine Sache vor Ort gibt es immerhin, die an die venerologische Station erinnert: den Gedenkstein. Ein Findling mit einer Metalltafel. Aber wie zielführend der ist – dazu gibt es geteilte Meinungen.

BIRGIT NEUMANN-BECKER Ich sage mal, also über diesen Stein bin ich sehr froh und damit war für mich eigentlich auch so ein Stückchen dieses Kapitel der Erinnerung sozusagen auch abgeschlossen.

BETTINA WEBEN Erst einmal: Ein Stein. Gut. Kann man sagen, der kann erinnern. Aber der macht das nicht gut. Und vor allem: Was ist ein Stein? Der steht so blöd da zwischen Häusern. Den sieht doch gar keiner.

Dass ein Gedenkstein Unrecht nicht wieder gut macht – das ist klar. Aber was Bettina Weben hier anspricht, nämlich dass der Stein keine Aufmerksamkeit auf sich zieht: Das stimmt. Ich denke an die Schülerinnen, die regelmäßig ihre Pause hier verbringen und vor dem Gespräch mit mir anscheinend noch nie den Stein bemerkt haben.

Im Sommer, als ich noch am Anfang stehe mit meiner Recherche, da gehe ich ins Stadtmuseum. Dort gibt es in der Dauerausstellung einen großen Geschichtskomplex zu Halle in der DDR. Ich finde nichts zu einer „Tripperburg“. Und ich habe auch sonst zunehmend den Eindruck: Wer sich für DDR-Geschichte interessiert, aber weder den Gedenkstein wahrnimmt, noch an einem der Stadtrundgänge des Verein Zeit-Geschichte(n) teilnimmt, wird nicht gerade aus Versehen auf das Thema stoßen. Dabei gibt es ja inzwischen Material dazu. Man muss nur eben gezielt danach suchen.

LIANE PFÖRTNER Aber dadurch gelangt es ja nicht ins öffentliche Bewusstsein und dadurch bleibt ja auch sowas wie ich die Situation mit meiner Oma hatte zum Beispiel bestehen, dass dann Personen irgendwie nicht über die eigentlichen Geschehnisse, die dort passiert sind, wissen, sondern dann so ein Bild davon noch in der Öffentlichkeit existiert, was gar nicht rechtens ist und was nicht stimmt. Das ist ja total das Problem.

Anfang des Jahres schreibe ich dieses Feature. Es ist spät abends und eine Freundin ist zum Co-Worken vorbeigekommen. Irgendwann machen wir Pause und gehen kurz vor die Tür. Dort tummeln sich Jugendliche. Hören laut Musik und trinken Bier. Man könnte sagen: Sie treiben sich herum.

Ich erzähle der Freundin, dass ich einfach nicht weiß, wie ich enden soll. Weil ich immer noch lose Themenfäden in der Hand halte. Zum Beispiel dass Ärzt*innen Autoritäten sind, denen vertraut wird – was an sich nicht schlimm sein muss, ihnen aber auch Macht verleiht. Dass die venerologische Station Teil von einem Muster ist: Menschen, die schwanger werden können, werden diszipliniert, indem in ihre Körper eingegriffen wird. Und dann gibt es eine Frage, die mich einfach nicht mehr loslässt: Wie oft hatte ich seit meiner Kindheit, ohne es zu wissen, mit Menschen zu tun, die auf dieser Station waren? Oder davon wussten?

„Mir fällt kein Fazit ein“, sage ich der Freundin. „Ich kann den Sack nicht zumachen.“

Sie antwortet: „Vielleicht geht es ja genau darum.“

Credits & Danksagungen

SPRECHER Kleine Klaus 16. Halle, die „Tripperburg“ und ich. Ein Feature von Irene Schulz.
Es sprachen: die Autorin und Philipp Reinheimer.
Idee, Redaktion und Schnitt: Irene Schulz.
Mit Musik von Arian Hagen und Iva Svoboda.
Die zitierte Hausordnung ist Bestand des Bundesarchivs und gehört zur Akte DQ 1 Nr. 4228.
Kleine Klaus 16 ist ein Abschlussprojekt für den Masterstudiengang Multimedia und Autorschaft an der Uni Halle.
Betreuung: Golo Föllmer und Maren Schuster.

Danke an alle Gesprächspartner*innen, die sich Zeit für mich genommen haben. Und einen herzlichen Dank an Christopher Fust, Frauke Rummler, Ireno Wand, Mareike Herz, Nadia Schmidt und Steve Amende.